Marcus Pretzell: Offener Brief an Joachim Starbatty zu TTIP

Offener Brief an Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Starbatty

Antwort auf den offenen Brief an die Mitglieder der “Alternative für Deutschland” und ihre Unterstützer vom 20.10.2014

Lieber Joachim,

Deinen offenen Brief zum Freihandel an die Mitglieder der AfD und ihre Unterstützer habe ich mit größtem Interesse gelesen. Wie auch Du, nehme ich nicht für mich in Anspruch für die Partei als Ganzes zu sprechen, sondern gebe nur meine persönliche Meinung wider. Bitte sieh also das Folgende als meinen Beitrag zu der von Dir angestoßenen Debatte an. Eines vorab: In manchem kann ich Dir zustimmen, in anderem nicht. Und weil es langweilig ist einer Meinung zu sein, will ich mich hier auf den Dissens beschränken.

Die Kardinalfrage lautet doch: Warum werden Deine richtigen Äußerungen zum Freihandel inzwischen von vielen kritisch gesehen?

Zweifelsfrei hast Du Recht, dass Freihandel
wohlfahrtssteigernd ist und dass Schiedsgerichte Regierungen davon abhalten können, Investitionstätigkeit zu behindern. Ökonomisch – und da bist Du Fachmann – ist das Konsens quer durch alle Denkschulen. In der Tat beleuchtetest Du die ökonomische Sichtweise – nun bist Du Politiker, was gemeinhin alles etwas schwieriger aber auch spannender macht. Jetzt hast Du in den Augen der Bürger auch Verbraucherschutz, Patientenrechte, Datenschutz, Umweltschutz, Sozialstandards und gesellschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen und gegenüber rein wirtschaftlichen Aspekten abzuwägen. Denn über allem stehen unsere demokratischen, rechtsstaatlichen und freiheitlichen Grundsätze.
Als Mensch stimmst Du mir sicher zu, dass die Interessen der Wirtschaft nicht über den Schutz der Bürger zu stellen sind.
Müssen wir uns als verantwortungsvolle Politiker nicht die Fragen stellen: Dienen Freihandel und Schiedsgerichte wirklich immer dem Verbraucherschutz, Datenschutz, Umweltschutz, Sozialstandards und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung? Können Schiedsgerichte Regierungen zu mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit zwingen?

Die von Dir zitierten Ängste gegenüber TTIP mögen an mancher Stelle “monstrous scare stories” sein, wie Du schreibst. Aber wären sie auch nur vereinzelt berechtigt, müssten wir sicherstellen, dass Bürger sich zu Unrecht ängstigen. Es ist also unsere Aufgabe dafür zu sorgen, dass Freihandel nicht dazu führt, dass “big government” sich zu “monstrous government” aufbläht.

Das beschriebene Faktum zum deutschen Exportüberschuss von knapp 8% des Bruttoinlandsproduktes ist gerade kein gutes Beispiel für Deutschland als einem der größten Nutznießer des weltweiten Freihandels. Wäre es zum jetzigen Zeitpunkt nicht prioritär Import und Binnenmarkt zu stärken, um den Überschuss mittelfristig abzubauen? Während der Krise mussten wir mit ansehen, wie diese deutschen Exportüberschüsse zu wesentlichen Teilen als Kredite in die Krisenstaaten abflossen, ohne dass die deutsche Volkswirtschaft große Hoffnung auf Rückzahlung hegen könnte. So verkommen also die deutschen Exportüberschüsse in erheblichem Maße zu einem Abschreibungsobjekt. Nicht alles, was betriebswirtschaftlich in der Exportindustrie nach Nutzen aussieht, muss letztlich auch volkswirtschaftlich von Nutzen sein. Als Politiker sollten wir vor allem die volkswirtschaftlichen Effekte berücksichtigen.

Zollfremde Handelshemmnisse können, wie dargestellt, großenteils unter Kennzeichnungspflicht aufgelöst werden. Bei den Sozialstandards bin ich anderer Meinung. Sozialstandards sind zwar bedingt durch die nationale Produktivität, aber sie sind auch Wettbewerbsvor- oder -nachteil. Sie werden sich innerhalb eines Binnenmarktes, also auf lange Frist, annähernd nivellieren. Gleiches gilt auch für Verbraucherschutz, Patientenrechte, Datenschutz und Umweltschutz. Daher rührt meine Besorgnis, dass sich letztlich die niedrigsten Standards an diesen Stellen durchsetzen werden.

Verständlich ist der dargestellte Wunsch des Unternehmers nach Überschaubarkeit seiner Risiken, nach Sicherheit und Stabilität; verständlich auch sein Wunsch nach Gewinnen. Standen nicht unsere heutigen Umwelt- und Sozialstandards anfangs aus Unternehmersicht diesen im Wege? Hier musste Überzeugungsarbeit geleistet werden. Das hat sich in vielerlei Hinsicht gelohnt – für Bürger und für Unternehmer. Dort, wo Überregulierung tatsächlich der Wirtschaft Ketten anlegt, und Bürger nicht oder nur unzureichend profitieren, haben wir als AfD uns doch auf die Fahne geschrieben, dies in nationaler Verantwortung lösen zu wollen. Kurzfristig mag dem Unternehmer daran gelegen sein, das Recht gegen politische Mehrheiten auf seiner Seite zu wissen. Kurzfristig mag ihm auch daran gelegen sein, sich um bürgerliche Rechte und Freiheiten nicht übermäßig Gedanken machen zu müssen. Der kluge Unternehmer wird letztlich aber vor allem politische Stabilität im Auge haben. Ein Staat, dessen Bürger auf Teile ihrer Gesetzgebung keinen Einfluss mehr haben, wird sich auf lange Sicht mit erheblichem gesellschaftlichen und politischen Unruhepotential konfrontiert sehen. Letztlich kann niemand langfristig gegen Mehrheitsüberzeugungen agieren und regieren. Wer die Einflussmöglichkeiten durch die Politik und damit durch die Bürger auf bestimmte Aspekte von Gesetzgebung und Rechtsprechung beschränkt, handelt daher kurzsichtig und keineswegs stabilitätssichernd. Konstanz der Wirtschaftspolitik kann es nur in einem gesellschaftlich stabilen Umfeld geben, denn nur dort wächst Vertrauen.

Regierungen unterstehen als Exekutive dem Recht, wie richtigerweise von Dir gefordert. Aber Rechtsetzung erfolgt in einer Demokratie durch die Legislative, die Parlamente. Rechtsprechung hingegen erfolgt letztinstanzlich in einem Rechtsstaat durch die Judikative und nicht etwa durch supranationale Schiedsgerichte außerhalb der nationalen Einflussspähre.

Einig sind wir uns hingegen in der Kritik an der “Geheimniskrämerei” bei den Verhandlungen. Völlig zu Recht ziehst Du hier Parallelen zu den Vertragsbrüchen rund um die “no-bail-out-Klausel”, den ESM und andere rechtswidrige Maßnahmen der Euro-Rettungspolitik. Im gleichen Atemzug äußerst Du Dein Unverständnis darüber, dass Regierungen und Parlamente aufgrund ihrer Überforderung ausländischen Anwälten und sogenannten Experten das Feld überlassen: Ein Skandal, über den unsere Nachfahren den Kopf schütteln werden.

Lieber Joachim,
exakt diese Medizin möchte ich im Falle von TTIP nicht verabreichen. Auch wenn der volkswirtschaftliche Sachverstand in der deutschen Bundesregierung und im deutschen Bundestag häufig nicht das wünschenswerte Maß erreicht hat, rechtfertigt dies nicht, Regierung und Parlament die Gestaltungsfreiheit zu nehmen, und schon gar nicht rechtfertigt es, wie bei TTIP geplant, supranationale Schiedsgerichte über Deutschlands Schicksal richten zu lassen, die mit Anwälten aus anglo-amerikanischen Großkanzleien besetzt sind. Die aufgezeigten Parallelen zwischen Euro-Rettungspolitik und TTIP sind zu gravierend, als dass wir die Sorgen der Bürger um die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aus rein wirtschaftlichen Erwägungen leichtfertig fortwischen sollten.

Du sprachst von der Familie, der ordoliberalen Wirtschaftsordnung und dem Patriotismus, die für Dich die thematischen Schwerpunkte der AfD bilden.

Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen, nicht der Mensch der Wirtschaft. TTIP würde dieses Prinzip auf den Kopf stellen. Im Sinne unserer Kinder, im Sinne des ordoliberalen Prinzips, auch die Freiheit der Bürger zu schützen, und aus patriotischem Verständnis ist TTIP in dieser Form zu verhindern.

Nicht als Advocatus Diaboli, sondern als Anwalt Deiner und meiner Kinder, appelliere ich an Dich: Lass uns den Schutz der Bürger unanfechtbar über die Interessen der Wirtschaft stellen!

Mit herzlichen Grüßen
Dein
Marcus Pretzell

Veröffentlicht in Kreisverband Darmstadt-Dieburg.